Kill a stupid rule

von Catherine Tenger | 18. Januar 2022

Vor 50 Jahren wurde das “Fräulein” in der damaligen BRD offiziell abgeschafft. In der DDR wurde die Anrede schon 1951 abgesetzt und in der Schweiz dauerte es bis ins Jahr 1996, bis die Bundeskanzlei einen ersten Leitfaden zur landesweit sprachlichen Gleichbehandlung herausgab.

Was heute richtigerweise als gesellschaftlich veraltet, despektierlich und politisch unkorrekt gilt, war aber nicht immer respektlos. Viele der zwischen 1890 und 1915 geborenen Frauen waren ein “Fräulein” aus Überzeugung, denn sie hatten sich diesen Titel hart erkämpfen müssen und grenzten sich so von verheirateten Frauen ab. Sie sind mit Katastrophen, Kriegen, Wirtschaftskrisen und Grippe-Epidemien selbständig fertig geworden – und das ohne Mann und ohne von den Eltern unter die Haube gebracht worden zu sein.

Wie wir miteinander umgehen, welche Sprache wir als respektvolle Mitmenschen gebrauchen, was wir also als richtig oder falsch betrachten – das alles ist das Resultat gesellschaftlicher Prozesse und damit stetig im Wandel. Darum muss man immer wieder mal eine Standortbestimmung machen und alte Zöpfe abschneiden, ganz im Sinn von “Kill a stupid rule”.

Was im Bereich des Change- und Innovations-Management funktioniert, geht nämlich auch bei den Umgangsformen. Denn genauso, wie Firmen mit der „Kill a stupid rule“-Methode Regeln und Abläufe in ihrem Unternehmen in Frage stellen, macht es die Gesellschaft im Laufe der Zeit mit den Regeln und Abläufen der Etikette. Der einzige Unterschied besteht darin, dass in Firmen Mitarbeitende ganz bewusst darüber nachdenken, Task-Forces gebildet und Neuregelung gezielt eingeführt werden. In der Gesellschaft passieren diese Veränderungen hingegen allmählich und nicht nach einem konkreten Plan. Die Fragestellung ist aber die gleiche: Was wird noch auf eine bestimmte Art und Weise getan, nur, weil es schon immer so gemacht wurde? Von welchen überholten Normen und Regeln sollten wir uns befreien? Was sind die ungeschriebenen Regeln? Eine Neuregelung der Umgangsformen findet dann statt, wenn die Mehrheit einer Gemeinschaft diese Änderungen als angenehm, respektvoll, sinnvoll und anständig bewertet. Bis es so weit kommt, und die Mehrheit diesen Schritt macht, müssen Betroffene und Vorreiter*innen oft hart dafür kämpfen. Heute versuchen wir, durch den Dschungel einer gendergerechten Sprache zu navigieren – in einigen Jahren wird es hoffentlich selbstverständlich sein und der Norm entsprechen.

Neues entsteht, Altes geht. Und in der Übergangsphase steht so mancher ratlos da. Hier daher etwas Klärung bei ein paar überholten Regeln, die nicht mehr zeitgemäss sind und trotzdem immer wieder mal für Unsicherheit sorgen:

  • Ein Mann betritt ein Restaurant als erster

Die Zeiten, als ein Mann durch die Türe vorausging, um die Lage zu überprüfen, sind vorbei. Dafür hält er heute einer Frau die Türe auf, damit sie das Restaurant vor ihm betreten kann. Sie bleibt dann aber stehen und wartet auf ihn, damit er die Führung zum Tisch übernehmen kann. Und das gleiche gilt auch umgekehrt. Wenn Sie als Frau einen Mann einladen – sei das Ihr Kunde, Chef, Freund oder Onkel – machen Sie es genau gleich. Wer einlädt, führt. Nur wenn Sie vom Restaurantpersonal zum Tisch geführt werden, stellen Sie sich als Gastgeber und als Gastgeberin hinten an.

  • Eine Frau muss das „Du“ anbieten

Diese Auffassung hält sich bei einigen Männern hartnäckig, ist aber veraltet. Das Duzen durchlief seit den Anfängen der deutschen Sprache verschiedene Stadien. Zwischen Erzen, Ihrzen und Siezen war das Duzen nur bei der ländlichen Bevölkerung und den niederen Ständen üblich oder es war reine Männersache. Frauen, die von Männern der ständischen Gesellschaft geduzt wurden, gingen oft einer nicht ehrenwerten Beschäftigung nach – Sie wissen schon. Für eine Dame gehörte es sich nicht, geduzt zu werden. Und als es dann im Laufe der Zeit langsam doch schicklich wurde, sahen die Herren einen grossen Fettnapf vor sich, in den sie auf keinen Fall treten wollten und überliessen diesen gesellschaftlichen Schachzug der Frau.

Heute ist es einfach und eindeutig:

-Im Business schlägt der Ranghöhere das Du vor (also auch der Kunde oder der jüngere Chef).

-Im Privatleben ist der Altersunterschied entscheidend. Der Sechzigjährige bietet dem Dreissigjährigen das Du an.

Ob Mann oder Frau spielt dabei keine Rolle.

  • Der Mann öffnet der Frau die Autotür, rückt ihr beim Platznehmen den Stuhl, steht auf, wenn sie den Tisch verlässt und zurückkommt, bestellt, zahlt die Rechnung

Liebe Männer, das sind nach wie vor schöne, höfliche Gesten und natürlich dürfen Sie das auch noch – aber überlegen Sie, wo und mit wem Sie unterwegs sind. Weil sie es heute selten erleben, wissen viele Frauen gar nicht, wie sie solche Gesten souverän annehmen sollen. Es ist wie beim Tanzen: Wenn beide die Grundschritte kennen, kann der gut führende Mann alle möglichen Figuren machen und die Frau schwebt elegant mit ihm übers Parkett. Wenn aber nur einer von beiden weiss, was er tut, stolpert man von einem Tanzschritt zum nächsten. Im besten Fall führt das zu gemeinsam fröhlichem Gelächter und im Worst Case endet es in einem peinlichen Desaster.

Wieso stehen diese (den Umständen entsprechend) freundlichen Gesten eines Gentlemans in der Kategorie „Kill a stupid rule“? Weil sie in einem geschäftlichen Kontext unpassend sind. Frauen verhalten sich im Business wie ihre männlichen Kollegen und es wird hier kein Unterschied gemacht. Die Grundschritte für alle sind dabei Respekt und Wertschätzung. Wer aber die Führung übernimmt, hängt von Rang und Rolle ab, nicht vom Geschlecht.

  • „Gesundheit!“ wünschen, wenn jemand niest

Als die erste Pest das christliche Römische Reich schwächte, war Papst Gregor der Grosse der Ansicht, dass Niesen ein frühes Warnzeichen für die Seuche war und so befahl er den Christen, auf ein Niesen mit einem Segenswunsch zu antworten.

Dass wir im 21. Jahrhundert noch während einer Sitzung das Gespräch oder sogar die Präsentation unterbrechen, um einer niesenden Person „Gesundheit“ zu wünschen, ist ein erstaunliches Relikt ungebrochener Überlieferung.

Warum fühlen wir uns nach wie vor gezwungen, jedem, der niest, unseren Segen zu geben, selbst wenn der Niesende ein Fremder ist oder das Niesen irgendwo aus der hintersten Ecke des Büros kommt? Und warum wünschen wir dann nicht auch einer hustenden oder sich die Nase putzenden Person Gesundheit?

Trainer für Umgangsformen überall – ich inklusive – versuchen unermüdlich, ihren Seminarteilnehmenden diese reflexartige Reaktion auszutreiben. Vor allem im Frühling, wenn Pollen durch die Luft fliegen und Taschentuchhersteller Hochkonjunktur haben. Wenn man sich da die Segenswünsche sparen könnte, wäre vielleicht manche Sitzung kürzer.

Aber da haben Sie es: Einzelne Rebellen ändern keine Regeln und auch Stilexperten nicht. Die Mehrheit der Gesellschaft bleibt hartnäckig dabei: Ein Niesen zu ignorieren ist schwierig. Manche Menschen sagen „Gesundheit!“ zu jedem, den es in der Nase kitzelt. Sogar zu ihrem Hund – ich inklusive.

Lesen Sie mehr zum Thema:

Süddeutsche Zeitung: Vor 50 Jahren wurde das “Fräulein” offiziell abgeschafft. Lange galt die Anrede als piefig, jetzt wandelt sich der Begriff zur Marke.

Basler Zeitung: Fräulein, nicht Frau!

Mehr zu Themen der Gesellschaft und des souveränen Auftritts im aktuellen Ratgeber “Format